Common Places - Abschiedsbrief an eine Stadt (lang!)

Meine liebe Stadt,

bald verlasse ich Dich, nachdem Du mich fast sechs Jahre umhüllt, mir Kraft gegeben und gute Freunde geschenkt hast. Ob Du mir nun motzig-verstockt oder turbulent-weltoffen entgegen kamst, ob Du in tristes Regengrau oder verzauberndes Frühlingsgrün gehüllt warst - Du warst immer unverfälscht und ich habe Dich in mein Herz geschlossen.

Dabei war diese tiefe Freundschaft so nicht vorhersehbar gewesen. Als Kind kam ich mit den Eltern und meiner sozialistischen Schulklasse nur selten zu Dir. Und wenn, dann war das durch die Lage unseres Heimatortes südwestlich des „Feindeslandes“ West-Berlin immer eine halbe Weltreise. Mit der Familie ging ich einmal ganz feierlich in den einzigen Asia-Laden an der Leipziger Straße – der meiner Vermutung nach auch der Einzige in der gesamten DDR war. Wir kauften verschiedene fremdländische Dinge wie Sambal Olek und Glasnudeln, um uns dann zuhause völlig unkundig, aber neugierig ein „richtiges chinesisches Essen“ zuzubereiten. Oder ich schlurfte mit den Schulkameraden gelangweilt am Pergamon-Altar vorbei, noch unfähig, das Weltkulturerbe zu begreifen. Wollten wir doch viel lieber an das Softeis gelangen, das Du durch Deine bevorzugte Versorgungslage viel häufiger zu bieten hattest als unser kleiner Ort. 

Überhaupt wollte jeder einen Onkel oder wenigstens eine gute Bekannte in Berlin haben. Das war die Garantie für den gelegentlichen Bezug von kratzigen Zellstofftaschentüchern, Trockenlinsen oder gar Orangen, die es meist nicht in die Konsumläden der Provinz schafften. Aber hier LEBEN? Leben wollte ich in dieser Betonwüste NIE, da war ich mir schon sehr zeitig sehr sicher! Ich kannte neben dem Tierpark und der Flaniermeile Unter den Linden auch nur die Leipziger Straße als Viertel, in dem erkennbar gewohnt wurde. So großspurig, so protzig, so seelenlos erschienst Du mir.

Genau, Berlin, Du bist eine Großspurige! So wurde es mir vermittelt. Vielleicht taten wir Dir Unrecht und Dir wurde dieses Benehmen nur aufgezwungen durch die SED-Parteileitung, die Dich als Vorzeige-Hauptstadt besonders strahlend gegen den Klassenfeind dastehen lassen wollte? Der höchste deutsche Fernsehturm in der sozialistischen Vorzeigestadt, auf dessen Kugel die Sonne ironisch ein leuchtendes Kreuz heftete, war ein Symbol für diese Anmaßung. 

Nach der Wende habe ich es wohl nur einmal geschafft, dort hinauf zu fahren. Zu ätzend waren mir die Touristenmassen, und das notwendige Schlangestehen wollte ich als gelernter Ossi gern vermeiden... Daher bin ich die letzten Jahre lieber abseits der großen Sehenswürdigkeiten durch meinen Kiez gestreift. Vom Rosenthaler Platz den Weinbergspark hoch, rund um die Zionskirche, hinein in die Anklamer Straße mit ihrem bezaubernden Arkonaplatz, weiter zur „Zonengrenze“, der Bernauer Straße, die auch heute noch eine unsichtbare Trennung zwischen den Stadtteilen Mitte und Wedding und ihren unterschiedlichen Einwohnerstrukturen markiert, und über die Oderberger rüber zur „Castingallee“. Und seit drei Jahren auch regelmäßig weiter an die Schönhauser Allee, wo ich mit der Stadtklostergemeinschaft ein tolles Projekt mit lieben Menschen und einen Ort der Stille, des Zuhörens und einer für mich neuen Wertedimension fand. 

Ich sage es ja nur leise: Manchmal habe ich es sogar nach Schöneberg, Wilmersdorf oder Kreuzberg geschafft, wo es Freunde zu besuchen galt. Sogar nach Marzahn und ins Märkische Viertel bin ich ab und zu gefahren! Aber das waren nicht meine Viertel. Nur mein Kiez war mein Berlin. So sind auch Großstädter manchmal ganz schön kleinkariert...

Ach Berlin, wie haste Dir jemausert! Jedenfalls aus meinem Blick. In meiner ersten Parterre-Wohnung im Innenhof des Weinbergsweges haste Dir noch janz schön vor mir versteckt und ich musste vor die Tür gehen, um zu sehen, wie das Wetter ist. Dennoch war ich in meinem "Schneckenhaus" geborgen. Von meinem zweiten Domizil im Dachgeschoß in der Anklamer konnte ich dann täglich jenen besagten Fernsehturm und darüber hinaus auch Deine (fehlende) Großstadtsilhouette bewundern. Wenn ich mich über die Balkonbrüstung lehnte (so verkündete ich stolz jedem, der es hören wollte oder nicht), konnte ich sogar den Potsdamer Platz mit seinem Sony-Center-Fujijama-Dach erblicken. Hier hörte ich im Frühling die Vögel zwitschern, im Sommer die Konzerte aus dem Mauerpark lässig herübertönen und im Herbst den Regen an die Dachfenster prasseln. Und im Winter dämpfte der von der BSR nicht geräumte Schnee so schön den Lärm der Autos auf ein dumpfes Grmmmm herunter und machte mich glauben, ich lebte in einer verträumten Kleinstadt mit Rundumversorgung. 

Das werde ich vermutlich als erstes von Dir vermissen – 24 Stunden am Tag schnell noch etwas einkaufen oder in dutzenden Lokalen um die Ecke sowohl um 8.00 als auch um 20.00 Uhr frühstücken zu können.Vielleicht ist es diese unbegrenzte Zahl der Möglichkeiten, die einen glauben lässt, man sei in Berlin der Freiheit ein Stück näher.

Aber mal ehrlich: Habe ich die grenzenlosen Angebote an Freizeitgestaltung, nächtelangem Durch-die-Kneipen-Ziehen, die diversen Kunst- und Kulturangebote oder die Multi-Kulti-Gesellschaft der vielen verschiedenen Berliner Stadtviertel denn wirklich genutzt? Ach ja, da waren ja die Scharen von Touristen, wegen derer man besser nicht hier oder dort hingegangen ist... Und ja, ich hatte mir doch seit meinem Berlin-Beginn im Juli 2007 vorgenommen, mit einer Straßenbahnlinie einfach mal bis an ihre Endhaltestelle zu fahren, um zu Fuß die fremde Umgebung zu erkunden. Eingelöst? Da purzeln gleich mehrere Neins über mich her. Merkwürdige Freiheit, die man nicht nutzt, aber doch vermisst...

Und war ich dann mal fern von Dir, so schaute ich beim Rückreise-Anflug über den Alex gleich wieder auf Deinen doofen, schönen Fernsehturm. Von oben, so ganz ohne Schlange stehen, brachte er mein Herz zum Hüpfen und gab mir das Gefühl zuhause zu sein. Da waren die täglichen Berliner Ärgernisse wie Glasscherben auf dem Rad- und Hundekot auf dem Fußweg oder die Demonstrationen, die einem immer dann den Weg versperrten, wenn man es besonders eilig zur Arbeit hatte, schlagartig zur Nebensache degradiert. Man war sich mit stolz geschwellter Brust einfach klar, das solche Dinge in einer Weltmetropole eben nicht ausbleiben. Mehr noch, sie gehören dazu und machen den besonderen Charme der Stadt aus. Und wer sich drüber aufregt, hat Berlin nicht verdient, basta. Soviel zum großspurigen Großstädter... 

Ach Berlin, es wird viel zu vermissen geben und ich könne vieles aufzählen. Selbst die Obdachlosen, die einen im Fünfminutentakt unbarmherzig den Straßenfeger verkaufen wollten und bei meiner Verweigerung ein schlechtes Gewissen verursachten, sind mir derart in Erinnerung, dass ich sie vermissen werde. Genauso fehlen wird mir das Gefühl, an einer roten Ampel einfach losgehen zu können, wenn kein Auto kommt, und keiner schert sich drum. Ok, hab ich nur gemacht, wenn kein Kind an der Ampel stand... Stadtluft macht jedenfalls wirklich frei, das habe ich genießen können. 

Diese Berlin-Freiheit tausche ich nun ein gegen das Leben in einer Stadt, die auch einmal deutsche Hauptstadt war. Sie musste nach der Wende vermutlich stark um ein neues Selbstbewusstsein kämpfen, hatte sozusagen Wendeprobleme wie viele meiner ostdeutschen Landsleute. Das macht sie mir eigentlich schon sympathisch und ich möchte sie ergründen. Ob dort auch so viele Alleskönner wie in Berlin zuhause sind? Schließlich war man ja mal wer! Wie wird die Stadt, mein Viertel ticken? Was haben die Menschen dort für Geschichten? Das werde ich sehen, hören, spüren.

Gut, es wird in meinem neuen Kiez ganz sicher beschaulicher zugehen als im Prenzlauer Berg oder Mitte. Es gibt vermutlich keine vier Thai-Restaurants direkt oder schräg gegenüber; und die Veranstaltungszeitschrift für die nächsten vierzehn Tage wird nicht aus in Schriftgröße 6 bedrucktem Extradünnpapier bestehen, damit das endlose Freizeitprogramm unterkommt. Aber es gibt dafür vielleicht die Chance, sich für eines unter drei guten Restaurants im Viertel zu entscheiden, das dann aber auch das Zeug dazu hat, ein Lieblingslokal zu werden. Oder die Chance, der potenziellen Vielfalt generell abzuschwören, um anzukommen und sich zu entscheiden, endlich auch mal das alte Nachbars-Ehepaar auf einen Kaffee kennen zu lernen. Ja, ich kann mir mit der fremden neuen Stadt schon jetzt eine Freundschaft vorstellen. 

Ich hoffe natürlich, dass ich dort auch so liebe, echte Freunde (wieder-)finde wie in Berlin, zu denen ich einfach mal rumkommen kann, weil sie nur einen Katzensprung entfernt wohnen und die schnell für ein ehrliches Gespräch, einen kopfbelüftenden Spaziergang oder einen spontan-fröhlichen Kneipenbesuch zu haben sind. Denn solche Freunde machen das große, anonym wirkende Berlin und damit vermutlich jede Heimat im eigentlichen Sinn l(i)ebenswert. 

Vielleicht ist es ja auch gut, auf den Boden der Tatsachen zurück zu kehren. Zum einen wortwörtlich vom Dach- ins Erdgeschoss mit Lizenz zum In-der-Erde-wühlen. Zum anderen in eine Community – ähm Gemeinschaft, die mal keinen Partybürgermeister hat und auch nicht ständig mit dem Angesagtesten der Modeszene oder den hippsten Bohemiens mit noch hipperen Time-sharing-Schreibtischen aufwartet und darum schlicht als Nabel der Welt gelten möchte. 

Die neue Heimat wartet mit einer spannenden beruflichen Aufgabe auf mich. Sie hält mit ihrem rheinländischen "Leben und leben lassen" und grünen Wohnumfeld sicher auch die Möglichkeit zum entspannten Geborgensein bereit. Ich freue mich auf die neuen (Rhein-)Ufer. Und letztlich kann ich aus der Ferne so gelassen wie noch nie beobachten, ob die Berliner S-Bahn im kommenden Winter wieder im Schnee-Chaos versinkt oder wann vom „dicken Willy“ nun tatsächlich die ersten Flugzeuge abheben. 

Sei nicht traurig, mein großes, dreckiges und energiegeladenes Berlin, ich werde Dich trotzdem immer lieben. Und wenn ich Dich als Touristin besuchen komme, dann machen wir zusammen endlich die Dinge, die ich als Deine Bewohnerin nie machen wollte. Vielleicht finde ich mich dann auch mal in der Schlange am Fernsehturm wieder, um nach einer Stunde Wartezeit glücklich den Blick auf Dich zu genießen...

Deine Maja




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